Was war, das war?
Den 27. Januar, seit 1996 bundesweit gesetzlich verankerter Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus, haben die Vereinten Nationen im Jahr 2005 zum „Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“ erklärt.
Am 27. Januar 1945 befreiten Soldaten der Roten Armee die Überlebenden im KZ Auschwitz-Birkenau, dem größten Vernichtungslager des Nazi-Regimes. Mehr als eine Million Menschen waren allein in Auschwitz zwischen März 1942 und November 1944 in einem beispiellosen Vernichtungswillen ermordet worden. „Auschwitz“ steht heute als Begriff für den nationalsozialistischen Rassenwahn.
Gegen das Vergessen
Mit diesen drei Worten bringen weltweit unzählige Projekte, Vereine, Initiativen und Einzelpersonen ihren Wunsch zum Ausdruck, die Demokratie zu stärken und die Verbrechen an ihr in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken. Mir ist das ebenfalls ein Bedürfnis und zwar an jedem einzelnen Tag in jedem Jahr und ganz besonders eben am 27. Januar. (https://www.gegen-vergessen.de)
„Wer hier wohnt, der sucht Ruhe und Besinnlichkeit“
Viele Jahre lang habe ich am Starnberger See gelebt. In Ambach, einem bayerisches Idyll, vergessen oder bewusst übergangen vom Fortschritt, mit Blick auf See und Zugspitze, Wälder, grüne Weiden, Schlösser und architektonische Kleinode inmitten prächtiger Parkanlagen. Nicht weit davon entfernt liegt die kleine Gemeinde Seeshaupt, erstmals urkundlich erwähnt im Jahr 740 n. Christus, kaum bis gar nicht von größeren geschichtlichen Ereignissen berührt und lange Zeit abhängig von den umliegenden Klöstern Polling, Bernried, Benediktbeuern, Beuerberg und Habach.
1815 brach im Gasthaus zur Post ein Feuer aus, sogar der Kirchturm brannte und die Glocke schmolz. 1850 hält das Dampfschifffahrtszeitalter Einzug, 1857 wird der Ort u.a. zur Pferdewechselstation des bayerischen „Märchenkönigs“ und schließlich im Laufe der Jahre zur Sommerfrische Erholung suchender, betuchter Münchener. Mit dem Geld hält auch die Kunst Einzug, darunter Maler der Münchener Schule und des Blauen Reiters.
Mit dem Todeszug in die Alpen
In diesem Idyll, bis dato durch beide Weltkriege von überschaubaren Verlusten betroffen, bleibt in der Nacht vom 30. April 1945 ein Güterzug stehen.
Seine Fracht: 3.600 KZ-Häftlinge aus dem Lager Mühldorf, einem Nebenlager des KZ Dachau. In der sog. Alpenfestung sollen die Häftlinge, in 70 Waggons gepfercht, auf Himmlers Befehl vom 14. April 1945 vernichtet werden. Keiner der Häftlinge soll lebend in die Hände der Alliierten gelangen. Das Verbrecherregime will seine Spuren verwischen.
Der Todeszug hat eine lange Irrfahrt quer durch Bayern hinter sich. Seit fünf Tagen sind die Menschen unterwegs. Ohne Wasser. Ohne Nahrung. Krank und geschwächt durch die Lagerhaft. In Poing, einer kleinen Gemeinde im Landkreis Ebersberg/Bayern, flieht die SS-Mannschaft, die den Zug bewacht, als die „Freiheitsaktion Bayern“ über Radio den Sieg über den Nationalsozialismus ankündigt. Der Aufstand scheitert, die SS-Männer kehren zurück, treiben die umherirrenden Häftlinge wieder in die Waggons und richten viele von ihnen als Strafaktion hin.
In München, am Südbahnhof, werden die Waggons auf zwei Loks verteilt. Eine Zugmaschine alleine hätte ihre Todesfracht über den steilen Alpenanstieg nicht bewältigen können.
Schließlich in Seeshaupt angelangt, koppelt der Lok-Führer die Waggons ab und flieht vor den Amerikanern. Die US-Armee befreit die verängstigten Menschen, viele von ihnen kurz vor dem Verhungern. Über 60 Gefangene hat der Tod bereits fest in seine Arme geschlossen. Die Amerikaner zwingen die Bevölkerung, aus jedem Haushalt ein Familienmitglied an den Bahnhof zu schicken. Die Deutschen sollen mit eigenen Augen sehen, zu welchen Gräueln ihr Regime fähig ist. Die Toten müssen von Seeshauptern eigenhändig in einem Massengrab „beigesetzt“ werden.
Den Überlebenden des Todestransportes gewährt die US-Armee eine vier Tage währende Plünderungsfreiheit, Gewalt und Mord sind untersagt.
Bis man sich endlich zu einem Mahnmal durchringen mag…
50 lange Jahre soll es dauern, bis man sich in Seeshaupt auf Initiative des damaligen Gemeindratsmitglieds und Seeshaupter Arztes Dr. Uwe Hausmann – nach vielen Querelen und Uneinigkeiten – schließlich auf ein Mahnmal zum Gedenken an Tote und Überlebende des Schreckenstransports einigen kann.
DOCH: Nicht direkt am Bahnhof soll es stehen, da könne es ja jeder Reisende und Besucher direkt sehen, so das Bürgerbegehren der Mahnmal-Gegner.
Mehr dazu im taz-Artikel von Corinna Emundts „Was war, das war!“ sowie im Artikel vom Münchner Merkur und Renate Fraunberg „Mahnmal: Grünes Licht für Infotafel“
„Der Seeshaupter Anton H. war damals wie Louis Sneh ebenfalls 17 Jahre alt und kann sich noch gut an den Elendszug erinnern. Auf Geheiß der Amerikaner mußte er sich Leichen von Häftlingen anschauen, die in einem gesonderten Güterwagen mitgeführt worden waren. Ein „schlimmer Anblick“ sei das gewesen, sicher sei in dieser Zeit Unrecht geschehen, sagt Anton H. Aber ein besonderes Denkmal für diese Leute aufzustellen, davon hält er nichts. Da müßte ja jede deutsche Gemeinde ein Denkmal aufstellen, …“ taz archiv, „Was war, das war!“
Endstation Seeshaupt – der Film
Endstation Seeshaupt – das ist auch der Titel eines Filmes von Walter Steffen, Autor, Regisseur und Produzent. (Dokumentarfilm, 97 Minuten im Verleih der Konzept+Dialog Medienproduktion). Gemeinsam mit zwei Überlebenden des Todeszuges, Louis Sneh (verstorben am 16. Januar 2022 im Alter von 94 Jahren) und Max Mannheimer (verstorben am 23. September 2016 in München), fährt der Filmemacher Walter Steffen die ganze Strecke noch einmal ab. Zu Wort kommen auch ehemalige Einwohner bzw. Zeitzeugen aus der Bevölkerung.
Der damals 17jährige ungarische Jude Louis Sneh kehrte immer wieder zurück an den Ort seiner Wiedergeburt, wie er Seeshaupt im Film selbst nennt.
Der Film zeige auf, wie durch die Reflexion der Geschichte Traumata überwunden und ein Versöhnungsprozesse in Gang gesetzt werden könne und baue damit eine Brücke von der Vergangenheit in die Zukunft, so heißt es in der Pressemitteilung zum Dokumentarfilm.
Seeshaupt ist überall!
Mein Text soll dazu motivieren, Vertrautes, die Heimat, den Ort, in dem man lebt und an dem man sich wohlfühlt, einmal mit anderen Augen zu betrachten, sich zu fragen, welche Spuren die Nationalsozialisten in der heimatlichen Umgebung hinterlassen haben und sich diesem Abschnitt der Geschichte unseres Landes und unseres Volkes immer wieder aufs Neue zu stellen.
Zum Thema ist u.a. auch das Buch „Damals im April – eine Chronologie zum Seeshaupter Mahnmal“ erschienen.