Henia Bardach – ein Kinderschicksal im Holocaust
Nachgetragen: Einmal mehr vor dem Hintergrund des ohrenbetäubenden Schweigens und des laut gewordenen Hasses nach dem 7. Oktober 2023 ist es mir eine Herzenssache, zu erinnern und den Finger in die schwärende Wunde zu legen und darin zu bohren, auf dass es schmerzt und brennt wie Feuer.
Das kleine Mädchen auf dem Stuhl mit der großen Schleife im Haar, den Blümchen in der Hand und den Ringelsöckchen in den Schuhen heißt Henia Bardach. Yad Vashem und der Zufall haben das Mädchen Henia in mein Leben gebracht. Diese Fotoaufnahme, ein Eintrag in einer Datenbank und die Nummer 15000/14129330 – viel mehr ist von diesem kleinen Menschenleben nicht geblieben.
Quelle: Datenbank Yad Vashem
Ein Leben – zerstört, noch ehe es richtig begann
Henia wurde 1936 in Gliniany geboren. Ihre Heimatstadt blickt auf eine wechselhafte Geschichte zurück. Mal gehörte sie zu Österreich, mal zu Polen, mal zu Deutschland und heute heißt sie Hlynjany und gehört zur Westukraine.
Ich habe die kleine Henia zum ersten Mal in einer Online-Datenbank gesehen. Auf dem Foto ist Henia vielleicht 2 oder drei Jahre alt und ihr ganzes Leben liegt vor ihr. Vielleicht war sie klug genug und hätte ein Gymnasium besuchen, ihr Abitur machen und studieren können? Vielleicht hatte sie ein musisches oder anderes kreatives Talent, eine Begabung für Sprache, für Fotografie, für Kunst? Vielleicht hätte Henia Bewegung geliebt, Sport gemocht, gerne getanzt oder gesungen? Vielleicht wäre Henia Ingenieurin geworden? Oder Bäckerin? Pilotin? Kammersängerin? Mama? Ehefrau? Geliebter Mensch und geschätzte Tochter und Frau? Vielleicht wäre sie eine prima Krankenschwester gewesen? Eine Lehrerin? Schneiderin? Oder Bürokauffrau? Gereist, rund um die Welt? Großmutter und heute stolz auf ihre Enkel und Ur-Enkel?
Alles scheint möglich, wenn man auf dem Foto in Henias Kindergesicht blickt und sich vorstellt, dass sie heute eine Seniorin von 87 Jahren wäre. Eine betagte Frau mit grauem Haar und einer langen Geschichte, die ihr Leben ist. Doch zu dazu sollte es nie kommen.
Eine Nummer – ein Name – mehr nicht.
In der zentralen Datenbank der Internationalen Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem ist Henia Bardach gelistet unter der Archiv-Nummer 15000/14129330. Und viel mehr ist von ihrem Leben nicht geblieben.
Eingereicht wurde das Gedenkblatt mit ihrem Namen und den wenigen Daten von einer Frau mit dem Namen Lea Kahana, und wenn meine Recherche stimmt, dann war Lea Kahana Henias Tante. In der Datenbank von Yad Vashem finden sich noch zwei weitere Menschen, derer Lea Kahana in dieser Form gedenkt: Ihre Namen lauten Riva Bardach, die wohl ihre Schwester war. Und Ytzkhak Meir Bardach, Rivas Mann und Leas Schwager, sodass man annehmen darf, dass Henia das Kind dieser beiden Eheleute gewesen ist.
Henia, ihre mutmaßliche Mama Riva und ihr mutmaßlicher Vater Ytzkhak sind Opfer des deutschen Nationalsozialismus, sind Opfer des deutschen Massenmords, sind Opfer der Schoa geworden.
So viele Wege, zu sterben. Kaum einer, überlebt haben zu können.
„Juden wurden in der Schoa auf verschiedenste Weisen ermordet, unter anderem: Vergasen, Erschießen, lebendig verbrannt werden, lebendig begraben werden, Tod durch Erschöpfung durch Zwangsarbeit, Epidemien, mangels jeder hygienischer Bedingung oder dem Fehlen medizinischer Versorgung. Manche Juden nahmen sich das Leben, um der Festnahme und weiterer Verfolgung zu entgehen oder ihr hoffnungsloses, nicht nachlassendes Leiden zu beenden“, erläutert Yad Vashem.
Wo und wann Henia und ihr Vater starben, ist nicht vermerkt und auch nicht, wodurch. Riva Bardach wurde um 1945 ermordet. Wo und wie – auch das weiß man nicht. Henia, Riva und Ytzkhak sind drei Menschen, an die ich mithilfe von Yad Vashem erinnern will. Der Zufall hat sie in mein Leben gebracht über die „Remember Wall“ von Yad Vashem. Man kann sich dort registrieren und der Zufall macht einen zum „Paten“ für ein Schicksal, das wir Deutschen zu verantworten haben.
Drei Namen – drei Menschen – drei Leben – ausgelöscht im Rassenwahn. Drei Schicksale unter Millionen.
Henia, im Krieg geboren und von deutschen Faschisten getötet, wurde vermutlich keine 10 Jahre alt. Ihre Eltern starben kaum 40 Jahre alt. Eine Familie – ausgelöscht im Rassenwahn.
HENIA
RIVA
YTZHAK
Das sind drei Namen, drei Leben – drei Schicksale von mehr als 4,8 Millionen Menschen, an die man in Yad Vashem erinnern will. Ich werde sie nicht mehr vergessen.
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(Weitere Informationen unter https://iremember.yadvashem.org/)
Fotos: https://yvng.yadvashem.org/nameDetails.html?language=de…