Ischamannso. Nüschtjanüscht.
Es ist nunmal so. Es nützt ja nichts.
Ich hab ihm oft dabei zugesehen, wie er in einer Mischung aus Akribie und Selbstvergessenheit die Zweige seines Apfelbaumes beschnitten hat. Wie ein Bonsai sah das so bearbeitete Bäumchen schließlich aus, nur eben deutlich größer.
Er stand dann hoch oben auf seiner Leiter, zuletzt mit seinen 80 Lebensjahren, und ich hab ihn beobachtet dabei, denn sein Baum steht im Garten vor dem Fenster meines Arbeitszimmers.
Immer wieder hab ich dann gedacht: Uwe, das wird einmal dein Ende werden. Von der Leiter, unter den Apfelbaum, direkt unter die Erde.
Alles war schoin schier – schön sauber und ordentlich – im Garten von Uwe. Der Rasen akkurat frisiert, der Apfelbaum ein Kunstwerk im Beschnitt und das Gemüse mustergültig in Reih und Glied. Manchmal saß Uwe schon in aller Früh auf der Lauer, bis sein Erzfeind, der Maulwurf aufgetaucht ist. Uwe hatte zu keinem Zeitpunkt eine Chance gegen das wühlende Tier, aber er hat sie immer wieder genutzt. Die aufgeworfene, dunkle Erde – sie war ihm ein Dorn im Auge, ein Stachel im Fleisch, ein steter Angriff auf seine Seele.
Und immer war Zeit für einen Schnack mit Uwe über den sprichwörtlichen Zaun.
Und „Nüschtjanüscht. Ischamannso“ seine lakonische Antwort auf alle Fragen des Lebens.
Ob Politik, die Nachbarn, das Wetter, Gesundheit, das Alter, die Kinder oder seine Frau – worüber auch immer ich mit ihm sprach, am Ende zuckte er mit den Schultern, lächelte verschmitzt, schob seinen Unterkiefer vor und hielt – mal mehr und mal weniger – nuschelnd fest:
„Ischamannso. Nüschtjanüscht!“
Seine Nachbarn sucht man sich einerseits aus und andererseits auch wieder nicht. Als ich vor 16 Jahren in mein Wolfsnest zog, wurde ich jedenfalls von Uwe und seiner Frau skeptisch aber wohlwollend beäugt. In unserem 360-Seelen-Dörfchen kennt zwar längst nicht Jeder Jeden, aber jede(r) Neue fällt erstmal auf.
Verstanden, was Uwe sagt, hab ich zu dieser Zeit kaum. Uwe schnackt plattestes Platt und ich war nicht immer sicher, ob auch alle Zähne an Bord waren, wenn er mit mir sprach. Wie oft haben wir vermutlich fröhlich aneinander vorbei gelacht, weil keiner wusste, was der andere will.
Uwe wusste immer über alle Bescheid. Wer kam und wer ging und warum und wohin. Wann der schwarze Müll dran war, wann der Gelbe Sack oder die Papiertonne. Wer in Urlaub war und wie lang. Wer gestorben war und woran. Und vor allem auch, wer bei uns zuhause ein- und ausgegangen ist. Wann bei uns welcher Baum gepflanzt worden war. Wo die Leitungen längs gingen. Wie man Grübben grübbt. Wo früher die Eingangstür bei uns im Haus gewesen ist. Und wer, wann und wo mal im Dorf gelebt hat.
Dann haben die Dörfler für Uwe un sien Edith einen Kranz geflochten: Für 50 Jahre Ecklak und länger – haben er und seine Edith am Rande, fast am Kanal, im kleinen Haus mit dem Apfelbaum im Garten gelebt.
In den letzten Jahren wurde es mühsam für das Ehepaar. Edith sah immer schlechter. Und Uwe war nicht mehr so gut auf den Beinen. Ich hab’s zuerst am Gemüsebeet bemerkt, das er aufgegeben hat, dann an den Maulwurfhügeln, die bleiben durften, am Rasen, der immer öfter die 5-mm-Millimeter-Marke überschritt und zuletzt daran, dass er einfach nicht mehr oft in seinem Garten zu sehen war. Dann haben die Kinder das Haus schließlich verkauft. Und Uwe und Edith sind plötzlich ausgezogen. Ins nächst größere Dorf, wo sie eine kleine Wohnung bezogen und Betreuung bekamen, falls gewünscht.
Sie haben uns nicht tschüss gesagt. Sie waren am einen Tag noch da und am nächsten weg.
Ab und an hab ich Uwe in seinem Auto vorbeirollen sehen, wohl um aus der Ferne einen Blick auf sein Häuschen werfen.
Uwes Apfelbaum wächst seither in den Himmel. Und er wächst und wächst. Der alte Baum trägt mehr Früchte, als in jedem Sommer zuvor. Und jeder einzelne Apfel davon ist Uwes Werk.
Als ich Montag früh zum Briefkasten ging, lag darin ein schwarz umrandetes Kuvert.
Ich hab schwer geschluckt.
Und dann Ischamannso gedacht.
Und dass es weh tut.
Auch wenn das der Lauf des Lebens ist.
Wie sehr hätte ich ihm gewünscht, von der Leiter fallen zu dürfen.
In seinem Garten.
Und unter seinen Apfelbaum.
Ischamannso. Nüschtjanüscht!