Mysteriöse Liebesbriefe
Mysteriöse Liebesbriefe

Mysteriöse Liebesbriefe

Mysteriöse Briefe

Streng geheim!

Ich war etwa 15 oder 16 Jahre alt, als ich eine Reihe mysteriöser Liebesbriefe erhalten habe, deren Verfasser sich denkbar geheimnisvoll gab. Er könne sich aus bestimmten Gründen nicht offenbaren und – irgendwann – würde ich diese vielleicht auch verstehen. Ich solle unter gar keinen Umständen versuchen herauszufinden, wer mir geschrieben habe. Das könne zu größten Schwierigkeiten führen. Für ihn. Für mich. Für uns alle!

Aber: Er könne einfach nicht anders. Er müsse mir sagen, wie sehr ich ihm gefiele. Und wie zum Beweis, folgte eine ganze Reihe mehr oder weniger zutreffender Attribute, mit denen er mich beschrieb. Gerade so, als wolle er sich selbst vergewissert haben, auch wirklich mich und nur mich zu meinen.

Vor Neugierde kaum auszuhalten

Neben der Freude darüber, dass mich jemand in dieser Weise bedachte, dass sich jemand die Mühe machte mir zu schreiben und zu alledem auch noch sich selbst in Gefahr brachte, bin ich fast gestorben vor Neugierde. Und ein bisschen verärgert war ich auch, weil ich, das kann ich jetzt rückwirkend so festhalten, die Dinge mein Leben lang eher geradeheraus als von hinten durchs Auge angegangen bin. Ich konnte mir einfach keinen Reim machen auf diese Geheimniskrämerei. War aber überzeugt, zusammen, würden wir alles schaffen, würden wir jeden Weg gehen und jeder Gefahr trotzen können, sofern er sich zu erkennen gäbe. Und – natürlich – sofern ich seine Gefühle erwiderte. Dafür aber, das war eben das Mindeste, hätte ich wenigstens wissen müssen, wer mir da schreibt.

Eine Briefmarke, ein Poststempel – mehr nicht

Weder die sehr bemühte Handschrift, noch dass mit Kugelschreiber geschrieben worden war, noch dass hie und da die Reste von mit Bleistift gezogenen Linien zu sehen waren, noch irgendeine Stelle im dreiseitigen Text ließen auch nur im Ansatz einen Rückschluss auf den Verfasser zu.
Einziges (verwertbares) Indiz: Die Briefmarke, abgestempelt in Köngen, einem kleinen Dorf, ein paar Kilometer entfernt. Wo ich niemanden, wirklich nicht eine Seele auch nur beim Namen kannte. Aber immerhin, der Verfasser gab dadurch preis, aus der Umgebung zu stammen, zumindest aber, sich hin und wieder in Köngen aufgehalten zu haben.

Brief Nummer 2 – nicht minder mysteriös

Und dann, Tage und einiges Rätselraten später, den Adrenalin-Einschuss kann ich heute noch fast nachempfinden, kam der zweite Brief von meinem geheimnisvollen Verehrer. Darin gestand er mir in einem einleitenden Satz erneut seine tiefen und starken Gefühle. Um im Anschluss, und über die restlichen eineinhalb Seiten hinweg, der Anstrengung Luft zu machen die es ihn kostete, seine Gefühle geheimzuhalten, seine Briefe zur weit entfernten Post zu befördern, seine Liebsten und alle anderen zu täuschen, ja überhaupt mit mir in Kontakt zu treten. Es blieb nicht aus: Ich fühlte mich fast ein wenig schuldig. Allein, es mangelte mir an Möglichkeiten, ihn persönlich zu bewundern für seinen Schneid und Abbitte zu leisten dafür, dass ich ihm sein Leben so schwer machen würde.

Es klingelt an der Tür

Einige Tage später stand ein Junge vor unserer Haustür. Es war Emm, der Freund meiner guten Freundin Tee. Emm und ich haben – linkisch wie wir waren – ein bisschen Small Talk gemacht. Emm habe Tee besuchen wollen, die sei aber nicht da gewesen und da er nun schon hier sei, hätte ja vielleicht ich Lust und Zeit, mit ihm eine Runde um die Häuser zu drehen. Tee wohnte gleich um die Ecke, große Lust hatte ich nicht, aber etwas ließ mich sagen: „Klar, Emm, gerne. Bin gleich unten, warte einen Augenblick auf mich.“

Emm und ich gingen also spazieren. Wir redeten über dies und auch über das. Übers Wetter sicher auch und über Tee sowieso. Ich fand’s ganz nett. Emm fand ich auch ganz nett, wir kannten uns aus der Tanzschule und natürlich seit er mit Tee ging. Wir waren kurz vor zuhause, da erzählte er von der letzten Woche und davon, mit seiner Mutter Schuhe kaufen gewesen zu sein.
In einem Laden in Köngen.

In die Flucht geschlagen

Köngen!
Die „Bombe“ war geplatzt. Emm hatte sich verraten. Sein Blick, mein Blick – es brauchte keine Worte mehr. Sein Gesicht lief puterrot an, alle Verzweiflung über das Versehen war darin zu lesen, und dann war er weg, schneller als ich etwas habe sagen können. Er ließ mich einfach stehen. Und war auf und davon.

Ich habe nie wieder etwas von Emm gehört. Und es fehlt mir heute völlig an Erinnerung, warum das so war. Hin und wieder habe ich ihn aus der Ferne gesehen. Und mit meiner Freundin Tee habe ich nie auch nur ein Wort darüber verloren.

Tee hat bald darauf Gee kennengelernt, sich später mit ihm verheiratet und ist das bis heute geblieben. Und ich musste jüngst, angeregt durch eine Foto und eine Geschichte einer Freundin, an Emm denken, an seine Briefe und daran, wie eine kleine, gestempelte Briefmarke ein Ende vor jeglichen Anfang gesetzt haben kann.