„Liebe in Zeiten des Hasses“ von Florian Illies. Eine #Liebeserklärung an ein #Buch über die #Liebe
Ich lese abends vor dem Einschlafen und im Bett und knicke in Ermangelung eines Bleistifts gern die Seiten sachte ein, wo mir eine Passage besonders wichtig erscheint, besonders gefällt, sprachlich im positiven Sinne auffällt oder ich eventuell später noch einmal nachschlagen will, was mich über die Lektüre hinaus interessiert.
Das Buch, das vor mir liegt, ist voller solcher Eselsecken.
Alfred Döblin, Bertolt Brecht, Erich Mühsam, Leni Riefenstahl, Marlene Dietrich, Pablo Picasso, Dali, die Familie Mann, Hannah Arendt, Erich Maria Remarque, Lee Miller, Man Ray, Gustav Gründgens, Coco Chanel, Einstein, Josephine Baker, Adorno, Dietrich Bonhoeffer, Truman Capote, Charlie Chaplin, Hermann Hesse, Hans Fallada, die Fitzgeralds, Greta Garbo, Kandinsky, Nabokov, Lola Montez, Kleist, Klee und Klemperer, Rowohlt, Sartre, Simone de Beauvoir, August Sander, Suhrkamp, Georg Trakl, Tucholsky, Billy Wilder, Kurt Weill, Carl Zuckmayer, Stefan Zweig und unzählige andere Frauen und Männer – Florian Illies‘ Buch „Liebe in Zeiten des Hasses“ ist ein Meisterwerk der Recherche und ein Who-is-Who der 20er- und 30er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Dieses 400 Seiten starke, wirklich starke Buch ist zudem eine wortgewordene Liebeserklärung an die Liebe in all ihren Facetten, ihren Nuancen, ihren Ungereimtheiten, Abwegen, Irrungen und Wirrungen, in all ihrer Vielschichtigkeit – vom Platonischen über das Leidenschaftliche hin zur Obsession.
Ich habe lange kein Buch mehr gelesen, das meine Stimmung mit jeder gelesenen Seite in einem solchem Maße hat heller und freundlicher werden lassen und das selbst dann noch, als Illies über das Jahr 1933 hinaus deutsche Schriftsteller, Philosophen, Wissenschaftler, Verleger, Redakteure, Journalisten, Maler, Bildhauer, Poeten, Theaterleute und Film-Schauspieler, Intendanten, Fotografen und Tänzer – ja sämtlich prominente Persönlichkeiten jener Zeit – auf ihrer Flucht ins Exil in die Schweiz, nach Frankreich, Italien oder die USA begleitet, wo sie, verfemt und verfolgt von Hitler-Deutschland und dem Stigma der sog. „Entartung“, oftmals höchst verzweifelt oder gar vergeblich versuchten, anzukommen und heimisch zu werden. Tragisch und auf merkwürdige Weise dann doch auch wieder tröstlich nachzulesen, wie von Talent, Begabung und Können verwöhnte Leben mit einmal zurückgeworfen sind aufs Zwischenmenschliche, auf diejenigen, die ihnen geblieben, von denen sie umgeben sind: Auf die wenigen, die (noch) zu ihnen halten und ihren Untergang in Mutlosigkeit und Verzweiflung zu verhindern wissen. Doch Illies schafft es, dass selbst in dieser stockfinsteren und von Hass erfüllten Zeit das Licht der Hoffnung nie ganz erlischt und am Ende und auf der letzten Seite des Buches sogar dessen Titel fragwürdig erscheint: Denn bei all der Liebe, der Leidenschaft, dem Verlangen, den größeren und kleinen Sünden, den seelischen Offenbarungen bleibt dem Hass beim Lesen kaum noch Raum, sich in den Vordergrund zu spielen. Wobei keinerlei Zweifel daran bleiben, dass so viele Existenzen, so viele Leben, so viel Lachen und schöpferische Kraft dem Hass und der nationalsozialistischen Ideologie zum Opfer gefallen sind.
Wunderbar auch die Details, all das Wissen, die erlesene Kenntnis, mit welcher das Buch aufwartet. Köstlich zu lesen, all die Anekdoten, die Bonmots aus den Leben der Stars jener Zeit, von denen es nicht wenige zu Unsterblichkeit gebracht haben, mindestens aber dazu, dass man sich auch heute und nach bald 100 Jahren noch immer für sie und ihr Werk interessiert.
Ich hätte beispielsweise nie vermutet, dass sich Erich Kästner als Muttersöhnchen entpuppen und seinen Frauen Namen wie „Pony“ geben würde, und sie – wie Illies es beschreibt – verwertet, aber nicht liebt. Seltsam berührt auch die Tatsache, wonach Kästner über sein (merkwürdiges?) Liebesleben regelmäßig sein „liebes Muttchen“ brühwarm informiert. „Sie kam sich nützlich vor und freute sich“, schrieb er über „Pony“ Margot, die er gebeten hatte, ihm in Berlin eine neue Wohnung zu suchen. „Pony wird ein bisschen zu rennen haben, aber die tut es ja gerne …“, lässt Kästner das liebe Muttchen wissen.
„So viel zur Lage der Liebe um 1930“, hält Illies an dieser Stelle lakonisch fest und zitiert Kästners Gedicht „Ein Mann gibt Auskunft“:
„Ich riet dir manchmal, dich von mir zu trennen,
und danke dir, dass du bis heute bliebst.
Du kanntest mich und lerntest mich nicht kennen.
Ich hatte Angst vor dir, weil du mich liebst.“
Doch es sind nicht nur jene Sätze – Zitate und Auszüge aus persönlichen Briefen der Protagonisten –, die mein Leserherz zum Schmelzen bringen, es sind auch seine eigenen Wortbilder, die erheitern, die weich in Herz und Seele stimmen. So schreibt Florian Illies beispielsweise über Yolla Niclas, die Geliebte Alfred Döblins: „Schon am ersten Abend ist ihr, als hätte ein Engel ihre Hand genommen. Sie fliegt mit ihm durch die zwanziger Jahre, versteckt auf seinem Rücken.“
Wunderbar auch, wenn er resümiert über Jaques-Henri Lartiques „Bilder der Vergötterung“ es geht um dessen Modell Reneé Perle: „Nie sehen die frühen dreißiger Jahre sinnlicher und nobler aus als auf diesen Schwarz-Weiß-Fotografien“, um gleich darauf trocken nachzusetzen: „Wenig später beginnt Renée Perle, sich selbst anzubeten. Sie mietet sich ein in ein Pariser Atelier – und malt sich selbst. Jeden Tag. Es sind Gemälde von fürchterlichem Kitsch. Immer dieselben Lippen, die auf ihrem hellen Gesicht liegen wie zwei schmale Kähne auf einem mondbeschienenen See.“
Neben all den Skandälchen und Skandalen, den amourösen und pikanten Details, den Liebes- und Leidensgeschichten, den Seitensprüngen, nach all den Über-Dreieck-Geschichten, den Ménages-à-trois, den teils verstörenden Abhängigkeiten, den Schwärmereien, den bi- und homosexuellen Amouren, den Geschichten von Musen und Meistern, von Diven und Genies, den Lebensentwürfen der Kunstschaffenden, der Parvenüs und der „Pop-Stars“ jener Zeit, hat mich u.a. die Geschichte der Fitzgeralds besonders berührt.
„Scott Fitzgerald ist wütend, dass seine Frau es gewagt hat, über ihre Jahre in Europa und die Nervenkliniken zu schreiben, damit hat sie eine Grenze überschritten“, schreibt Illies.
»Du bist eine drittklassige Schriftstellerin. Ich bin der bestbezahlte Story-Schreiber der Welt«, putzt Fitzgerald seine gemütskranke Frau Zelda herab. Illies beschreibt weiter: „Im Mittelpunkt steht immer wieder Fitzgeralds Macho-Haltung, wonach er allein berechtigt sei, über die gemeinsame Vergangenheit und die Klinikaufenthalte Zeldas zu schreiben. […] In „Zärtlich ist die die Nacht“, das 1934 erscheint, beutet er ihre Geschichte schamlos und ohne Rücksicht auf Verluste aus. Aber es ist Weltliteratur.“
Florian Illies gelingt überdies das Recherche-Kunststück aufzuschlüsseln, wer, wann, wem und wo begegnete und so von teilweise überraschenden Schnittmengen und Begegnungen zu berichten. Das Buch ist ein brillanter Reigen menschlicher Stärken und Schwächen, allein das Personenregister umfasst 9, die Auflistung relevanter Bibliografien 17 Seiten. Und ich habe mir beim Lesen notiert, wessen Geschichte ich mir noch einmal selbst genauer ansehen will.
»Ich gehe durch diese Zeit wie durch eine Gegenwart und versuche nicht schon zu wissen wie alles enden wird«, erläutert Illies im Gespräch mit der ZEIT. Vielleicht liegt auch genau darin der große Zauber seines Werks? Folgt man ihm nämlich auf diesem Weg, so scheint mitunter möglich, wovon man doch längst weiß, dass es sich am Ende als unmöglich erwiesen haben würde.
Ja, am Ende dieses lebens- und liebesbejahenden Buches habe ich mich unweigerlich gefragt: Liebe In Zeiten des Hasses – als solche könnte man auch jede Liebe dieser Tage bezeichnen. Und über welche Menschen unserer Zeit würde wohl in 100 Jahren so oder ähnlich geschrieben, wie hier? Ich hoffe sehr, die Leser aus dem Jahr 2122 dürfen sich u.a an den Hintergründen des (Liebes-)Lebens eines Florian Illies erfreuen. Für mich gehört er spätestens nach der Lektüre dieses Buches zu den Größen unserer Zeit.
Florian Illies, Liebe in Zeiten des Hasses
S. Fischer Verlage, 432 Seiten
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