Eine Elegie der Hoffnungslosigkeit in Bildern: Die Kensington Avenue in Philadelphia
Selten hat mich etwas so erschüttert, wie diese Video-Aufnahmen von Menschen in den USA, die anmuten, als nehme man bei den Dreharbeiten für einen Zombie-Blockbuster teil. Das Video zeigt die Kensington Avenue in Philadelphia und es ist eines von vielen Videos, die alle das Gleiche abbilden:
Unzählige Menschen, erkennbar schwer drogenabhängig, vegetieren auf der Straße vor sich hin. Sie wirken wie festgefroren in ihren unnatürlichen Verrenkungen, den starren Posen, die Resultat von durch die Drogen erzeugten Spasmen sind. Die Kamera fährt in langsamer Fahrt an den improvisierten Notbehausungen vorbei, an all dem Müll und über leere Gesichter hinweg. Sie zeigt in aller Schonungslosigkeit das Hoffnungslose, die Verlorenheit – die Drogenkatastrophe, das Apokalyptische einer Gesellschaft, deren Extreme mit dem Verstand kaum mehr zu fassen sind. Es sind vernichtende Zahlen von Obdachlosigkeit, eine unfassbare Menge von Drogentoten – es ist eine Katastrophe, DIE Katastrophe, wie ich meine, die über allem steht, was aktuell in den USA geschieht.
Falsch: Die über allem stehen müsste, würde man ihr die gebührende Aufmerksamkeit widmen!
Wer Kensington Avenue bei Google sucht, wird fündig. Unzählige Artikel befassen sich mit dem Phänomen, die Schlagzeilen lauten alle ähnlich:
„Heroinhölle Kensington“
„Diese Photos gehen unter die Haut“
„So kaputt, dass es wehtut: In der Heroinhölle von Kensington“
„Opioid Crisis: Photographing addicts …“
Alle 5 Minuten ein Drogentoter
Das Video erinnert mich auch an ein Foto in einem Artikel des SPIEGEL aus 2017, das eine amerikanische Familie in ihrem PkW zeigt, die Eltern auf den Vordersitzen, Körper und Hälse unnatürlich verrenkt im Drogenrausch, auf dem Rücksitz das Kind, sich selbst überlassen. Im Mai dieses Jahres vermeldet der SPIEGEL „einen traurigen Höchststand: Im vergangenen Jahr wurden mehr als 107.000 Drogentote gezählt. Befeuert wird die Epidemie durch legale Opioide“ (Alle fünf Minuten eine tödliche Überdosis in den USA)
Das Buch zum Thema – das Buch zur Krise
Einen Tag nachdem ich mir das verstörende Video angesehen habe, höre ich im Radio eine Buchkritik über „Imperium der Schmerzen“, geschrieben von Patrick Radden Keefe, auf @Deutschlandfunk Kultur, und kaufe mir im Anschluss das Buch, das sich mit dem Aufstieg der amerikanischen Familie Sackler und ihres Imperiums befasst.
Aus dem Klappentext des Hanser Verlags:
„Das große, verstörende Porträt der Sackler-Familie, die sich als Philantropen feiern lassen, deren Vermögen durch Valium entstand und die mit der Erfindung des Medikaments OxyContin die Opioidkrise in den USA auslöste. Und Millionen Menschen weltweit in die Abhängigkeit stürzte.
Der preisgekrönte Autor Patrick Radden Keefe zeichnet das Sittengemälde einer Industriellenfamilie, die die Welt prägt. Die Geschichte der Sackler-Dynastie birst vor Dramen – barocke Privatleben, erbitterte Verteilungsschlachten, machiavellistische Manöver in Gerichtssälen und der kalkulierte Einsatz von Geld, um sich als Kunstmäzene Zugang zur Elite zu kaufen und die weniger Mächtigen zu brechen. Ein narratives Meisterwerk, umfassend recherchiert und erschreckend zwingend argumentiert.“
„Imperium der Schmerzen“
von Patrick Radden Keefe
ISBN: 978-3-446-27392-4
Preis: 36,00 Euro
Und seither lese ich in einer Mischung aus Staunen und Entsetzen, wie es dem 1913 in New York City geborenen Amerikaner Arthur Mitchel Sackler und seinem Clan gelingen konnte, mit der verharmlosenden intensiven Bewerbung extrem suchtgefährdender Medikamente ein Imperium zu gründen. Und wie sein Name durch sein Wirken für Chemiekonzerne wie Pfizer und Hoffmann-La Roche und den von seinen Brüdern geführten Pharma-Konzern Purdue Pharma zum Mittelpunkt der Opiodkrise in den USA werden konnte. Wobei die Familie Sackler gleichzeitig steinreich wurde und zu Einfluss und Anerkennung gelangt ist.
Im Buch wird Sacklers Geschichte und die seiner Familie in kurzweiliger, romanhafter Form erzählt, wobei der Autor sein „Insiderwissen“ lückenlos mit Quellen belegt. Sackler gilt als Multitalent und als „Erfinder“ des Direktmarketing in der Pharmaindustrie. Sich direkt an Arztpraxen und Krankenhäuser zu wenden, war bis dahin für Pharma-Unternehmen nicht üblich. Sackler und seine von ihm gegründete Werbeagentur verhalfen in massiven Kampagnen, auch über Fachzeitschriften, deren Inhaber er war oder für die er entsprechende Texte verfasste, als harmlose Beruhigungspillen etikettierte Psychopharmaka massenweise unters Volk zu bringen. Um seinen guten Ruf nicht zu gefährden und die Verstrickung seiner diversen wirtschaftlichen Aktivitäten zu verbergen, vermied er es in vielen Fällen, namentlich in Erscheinung zu treten. Sein Nachlass wurde auf 140 Millionen Dollar geschätzt.
Das Buch erschien unter dem Originaltitel: The Secret History of the Sackler Dynastie – Empire of Pain
Der Sackler-Konzern Purdue und sein Oxycontin02
Die sog. Opioid-Epidemie in den USA wird u.a. dem Medikament Oxycontin zugeschrieben. Das ist ein populäres Schmerzmittel, produziert von Purdue, das süchtig macht und dessen verheerende Nebenwirkungen vertuscht wurden. Oxycontin ist viel stärker als Morphium, wird jedoch verteilt, als sei es ein Hustenbonbon, verschrieben und verordnet von Ärzten.
„2017 starben laut der US-Gesundheitsbehörde NIH 70.237 Amerikaner an Drogen-Überdosen, davon 68 Prozent an Opioiden wie Oxy. Seit das 1995 auf den Markt kam, hat sich die Zahl der US-Opioidopfer versechsfacht.“ (Quelle: DER SPIEGEL)
Dem Sackler-Clan auf der Spur
„Es gab ein Sackler Museum in Harvard, einen Sackler Flügel im Metropolitan Museum, ein Sackler Museum in Washington, und einen Sackler-Flügel im Britischen Museum. Ich wollte rausfinden, worin sie verstrickt waren. Was war die Geschichte dieser Familie? Wie häufte sie ihr Vermögen an – und wie viel Schuld trug sie an dieser furchtbaren Krise?“
Siehe auch titel thesen temperamente vom 30.10.2022
Es bleibt: Ein Prozess. Tausende Opfer. Viele Täter und Mittäter.
Und eine zerstörte Gesellschaft.
Es bleibt eine zerstörte Gesellschaft, die in riesigen und öffentlichkeitswirksamen Prozessen versucht, das Unbegreifliche aufzuarbeiten, Schaden zu ersetzen und sich und der Weltöffentlichkeit zu erklären wie es jemals so weit kommen konnte. Und wie zerstörerisch eine Gier ist, die keine Grenzen kennt. Siehe auch FAZ vom 14.10.2022: „Die Sacklers verlieren ihre letzten Freunde“
Die Rosa Brille auf Rezept
Oder wie es die Rolling Stones schon 1965 in ihrem Song „Mother’s Little Helper“ in Anspielung auf Valium, einen bereits in den 60ern erfolgreichen Benzodiazepin-Tranquilizer, thematisierten. Mit seinen Kampagnen für Valium, auch bekannt als Diazepam oder Faustan in der ehem. DDR, verhalf Sackler in seinen jüngeren Jahren dem La-Roche-Konzern zu Rekordumsätzen.
„Kids are different today, “ I hear every mother say
Mother needs something today to calm her down
And though she’s not really ill, there’s a little yellow pill
She goes running for the shelter of her mother’s little helper
And it helps her on her way, gets her through her busy day
„Things are different today, “ I hear every mother say
Cooking fresh food for her husband’s just a drag
So she buys an instant cake, and she burns a frozen steak
And goes running for the shelter of her mother’s little helper
And two help her on her way, get her through her busy day
Doctor, please, some more of these
Outside the door, she took four more
What a drag it is getting old
„Men just aren’t the same today, “ I hear every mother say
They just don’t appreciate that you get tired
They’re so hard to satisfy, you can tranquilize your mind
So go running for the shelter of a mother’s little helper
And four help you through the night, help to minimize your plight
Doctor, please, some more of these
Outside the door, she took four more
What a drag it is getting old
„Life’s just much too hard today, “ I hear every mother say
The pursuit of happiness just seems a bore
And if you take more of those, you will get an overdose
No more running for the shelter of a mother’s little helper
They just helped you on your way, through your busy dying day
Hey
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