Unku ist Z633, Bärbel Z634, Marie Z635.
Z wie „Zigeuner“
Dem Mädchen Rosita bin ich als lesendes Kind in einem Jugendbuch begegnet.
Auf einem Karren fährt Rosita mit ihrem Onkel durch Frankreich und Spanien und bedient als Buchfigur immer wieder das Klischee, das wir „Seßhaften“ (so heißen wir anderen im Buch) von den „Fahrenden“ (so heißen Sinti und Roma im kleinen Roman) gepflegt haben: Sie spielen Musik, tanzen dazu, leben vom Messerschleifen oder von Gelegenheitsjobs und manchmal auch vom Klauen.
Erschienen ist „meine“ Rosita im Jahr 1970. Gelesen habe ich sie im Alter von 12 oder 13 Jahren. Und ich habe sie und dieses Buch geliebt.
Rosita war eine kleine Anarchistin, schön, grazil und klug, aus einer anderen Welt, die mir exotisch und erstrebenswert vorkam. Sie schien so frei von Zwängen und Konventionen und durfte entscheiden, wo ich nur zu gehorchen hatte als Kind. Ihr Schöpfer, der Schriftsteller Josef C. Grund, der viele weitere Kinder- und Jugendbücher geschrieben hat, gab den Sinti und Roma mit seinem Buch eine Stimme. Er wollte, das wurde mir jetzt auch beim nochmaligen Lesen des Kinderbuches (ich habs mir jüngst gebraucht gekauft und noch einmal gelesen) seinen jungen Lesern erlernte, anerzogene Vorurteile nehmen und – sein Fazit – ihnen zeigen: Auch wenn Sinti und Roma anders sind und anders leben, als wir (Seßhaften), so sind sie nicht schlechter und nicht besser als wir. Nur eben anders.
Bei vielen seiner Formulierungen schlucke ich heute trocken; dies kleine Büchlein würde inzwischen durch alle Raster der politisch korrekten Formulierungen fallen. Und doch und eben zu seiner Zeit war es ein ganz klares Statement gegen Rassismus, gegen Vorurteile und gegen Diskriminierung und es hat mich maßgeblich darin beeinflußt, für Sinti und Roma und ihr Anderssein eine große Sympathie und Zuneigung zu entwickeln.
Vieles aus diesem kleinen Buch habe ich nicht wieder vergessen, u.a. die jährliche Wallfahrt der „Fahrenden“ nach Saintes-Maries-de-la-Mer, wo Sinti und Roma ihrer Schutzheiligen, der Schwarzen Sara zu Ehren, ein großes Fest ausrufen. Und auch nicht, mit wie viel Stolz Josef C. Grund seine Protagonisten auf ihr eigenes Volk und ihre Herkunft blicken lässt.
Im vergangenen Jahr dann habe ich „Ede und Unku – die wahre Geschichte“ gelesen. Das Buch erzählt vom Schicksal einer Sinti-Familie, beginnend mit der Weimarer Republik, über die Jahrzehnte hinweg bis heute. Der ursprüngliche und von Grete Weiskopf geschriebene Jugendroman „Ede und Unku“, auf den das Buch aufsetzt, beschreibt die Freundschaft zwischen dem „Zigeunermädchen“ Unku und dem Berliner Jungen Ede. Das Buch war jahrzehntelang Schullektüre in der ehemaligen DDR. Weiskopf hatte das Mädchen Unku in ihrer Nachbarschaft kennengelernt und mit ihm Freundschaft geschlossen. „Sie schrieb einen leidenschaftlichen Jugendroman, abseits der üblichen diskriminierenden, antiziganistischen Klischees“, schreibt Heribert Prantl im Vorwort von „Ede und Unku – die wahre Geschichte“.
Unkus wahre Geschichte erzählt Jahre später ihr Urgroßcousin Janko Lauenberger, zusammen mit der Journalistin Juliane von Wedemeyer.
Anstelle einer Buchbesprechung möchte im Gedenken der Opfer des Holocaust unter den Sinti und Roma das Buch selbst sprechen lassen, indem ich hier zwei bedrückende und ergreifende Abschnitte zitiere.
Aus „Ede und Unku – die wahre Geschichte“ (Anmerkung: Aus Unku ist inzwischen eine erwachsene Frau und Mutter geworden, sie hat zwei kleine Töchter und wird mit ihnen und vielen anderen Frauen und Müttern am 6. März 1943 nach Birkenau gebracht, wo Lagerkommandant Rudolf Höß einen Abschnitt für die „Zigeuner“ vorgesehen hat.)
[…] Buch, Seite 152 / „Männer und Frauen gehen getrennt zwischen den Stacheldrahtzäunen entlang, 20, 30 Minuten an den Blockreihen vorbei. Einen Fuß vor den anderen setzen, nicht stehen bleiben, nicht stolpern. Die Wachmänner neben ihnen achten auf einen reibungslosen Ablauf. Mit Hunden. Mit Stöcken. Mit Peitschen. Mit ihren schwarzen, schweren Stiefeln. Mit Gewehren. Ganz am Ende sieht Unku Schornsteine, aus einem schlägt eine meterhohe Flamme in den grau bewölkten Himmel. Der Rauch macht die Luft über dem Lager dicker, sie riecht nach verbranntem Fleisch und Eiweiß, stechend süßlich. Unku sieht sich nach den anderen um. Nutza und Turant sind dicht bei ihr. Lotte, Gäckel und Anna Berta auch. Kurz vor einem der Schornsteine biegen sie rechts ab. Jetzt betreten sie ein Gebäude, sie sollen sich ausziehen. Alles. Zwischen ihnen wieder die Wachmänner und Häftlinge. Die Frauen vor Unku sind nackt, sie wendet den Blick ab. Maries und Bärbels (Anmerkung: Unkus kleine Töchter) kleine Körper verdecken ihre Blöße. „Hinsetzen!“ Sie setzt sich auf einen der Schemel. Jemand tritt von hinten an sie heran und schert ihr die Haare. Manche der Frauen und Mädchen neben ihr weinen. Es geht weiter zum nächsten Raum. „Brausen“ steht an der Wand über dem Eingang. Kaltes Wasser rauscht auf sie herab. Als sie die Dusche verlassen haben, warten die Frauen nackt und nass. Es ist kalt, höchstens 8 Grad. Unku drückt Marie und Bärbel fest an sich, versucht sie zu wärmen. Irgendwann erhalten sie die Kleider zurück. Sie sind desinfiziert worden. „Anziehen!“ Es geht weiter. Gleich werden sie ihre Häftlingsnummern erhalten. Noch einmal muss Unku warten. Sie hält Bärbel im Arm, versucht sie zu beruhigen. Marie presst sich an sie. Vor ihr sind andere Mütter mit ihren Töchtern. Das Mädchen direkt vor Unku ist ein Jahr jünger als Marie. Es ist Onkel Petsches kleine Tochter Daisi. Ihre Mutter Taza hält sie an der Hand. Petsche und Daisis Bruder Gezi stehen bei den Männern. Und vor Taza wartet Mischen, Bullos Witwe, mit Mandelina und Püppchen, die in drei Wochen sieben wird. Ein Stück weiter sieht Unku auch Lotte, Turant und Nutza. Die meisten der Frauen und Mädchen in der Schlange kennt sie aus Berlin und Magdeburg. Viele gehören zu ihrer Familie, aber ohne Haare sehen sie fremd aus. Eine nach der anderen streckt ihren linken Unterarm vor. Dann Unku. Aus dem Stempel ragen etwa 5 mm lange Nadeln, deren Spitzen die Nummern bilden. Der Mann auf dem Hocker vor ihr, ebenfalls ein Häftling, tauscht die letzte Ziffer aus, bevor er ihn ihr ins Fleisch drückt. Bis in die zweite Hautschicht. Mit einem Tuch wischt er die Tinte in die Wunden. Es brennt. Dann greift er sich Bärbels Oberschenkel. Sie schreit, als sie die Nadeln stechen. Marie krempelt leise schluchzend ihren Ärmel hoch. Die Gadsche haben ihre Namen gegen Nummern getauscht. Unku ist jetzt Z633, Bärbel Z634, Marie Z635. Z wie „Zigeuner“.“ Die Tätowierer nummerieren an diesem Tag 1619 Menschen, 470 sind wie Unku Sinti und Roma aus dem Deutschen Reich. Als vor 9 Tagen die ersten 358 ins Zigeunerlager getrieben wurden, war es nur eine nackte Fläche – ohne Wege, ohne Wasser, ohne Toiletten, ohne Kanalisation, ohne Zaun. In den ersten Tagen flohen mehrere Sinti, aber niemand überlebte den Fluchtversuch, obwohl sich zwei sogar bis nach Hamburg durchkämpften. Die Neuankömmlinge müssen sich ihr Gefängnis selber bauen.“ […] Buch, Seite 159 „Der Tod ist immer gegenwärtig. Unku sieht manchmal, wie die Kinder am Zaun stehen und beobachten, wie jüdische Gefangene auf der anderen Seite an ihnen vorbei zu den Gaskammern gehen: Männer, Frauen, Kinder. Einmal zeigt ein Junge auf den Rauch, der bald darauf aus dem Schornstein quillt, und sagt: „Das war bestimmt der Dicke!“ „Und das der lange“, antwortet ihm ein anderer. Tagsüber bauen die Sinti und Roma das Lager weiter auf, zementieren die Kloakengruben in den vier Blöcken, die nun als Latrinen dienen, befestigen die Lagerstraßen und die Böden der Ställe, errichten Zäune, durch die später Starkstrom fließen wird. Sie graben die Schächte für die Lagerkanalisation und verlegen Schienen an der Rampe. Auch Kinder arbeiten, planieren Wege, tragen Steine. Manche sind erst 8 oder 9 Jahre alt. Die, die währenddessen zusammenbrechen, werden erschlagen oder erschossen. Die überlebenden Kinder legen die toten nach der Arbeit auf einen Holzkarren und schieben ihn zu einem der Krematorien. Vier sind mittlerweile in Betrieb. Wenn die nicht ausreichen, verbrennen die Häftlinge vom Sonderkommando die Leichen in Gruben.“
Unku, die mit richtigem Namen Erna Lauenburger hieß und 1920 in Berlin-Reinickendorf geboren wurde, starb zwischen dem 23. März und dem 15. April 1944 im Zigeunerlager Auschwitz. Überlebende berichteten, sie habe den Tod ihrer erstgeborenen Tochter Marie nicht verkraftet und sei daraufhin ermordet worden.